Die „böse“ Buchhandlung
„Sie haben eine böse Buchhandlung“ sage ich zur Besitzerin.
Sie sieht mich etwas irritiert an und ich erkläre, warum ich ihren wunderbaren
Laden „böse“ genannt habe: Eine „böse“ Buchhandlung ist eine, bei der du mit
drei Büchern rausgehst, wenn du nur eines kaufen wolltest und Du weißt, dass
alle Regale mehr als voll sind. Die Buchhändlerin wollte sich rausreden „Ich
kann ja nichts dafür“, machte sie auf unschuldig und stieß auf entschiedenen
Widerspruch.
Natürlich kann sie etwas dafür, sie ist ja für das Angebot verantwortlich,
ihre Fallen sind ja viel besser als die Algorithmen von Amazon oder wem auch
immer. Zuerst also hatte sie das Buch, das ich verschenken wollte, noch
lagernd. Ich war davon so begeistert, dass ich einfach ausprobieren musste, ob
die Beschenkten auch in die Falle gehen würden. „Ein schönerer Schluss“ – da
geht es um ein Leben zwischen Norwegen und Bosnien. Nicht nur zwischen den
Zeilen gibt es eine Katastrophe nach der anderen - genial übersetzt von Klaus
Detlef Olof, bringt der früh verstorbene Bekim Sejranovic die ex-jugoslawische
Welt näher als einem vielleicht lieb ist.
Um nur ein Beispiel zu nennen – der Begriff „unsere Sprache“,
der im Buch (und nicht nur dort) verwendet wird, bedeutet hier den Versuch ein
„wir“ zu beschwören, das längst in „kroatisch“, „serbisch“, „bosnisch“ und so
fort zertrennt worden ist. (Ein schönerer Schluss ist bei Folio erschienen).
Das war das Buch dessentwegen ich die Buchhandlung aufgesucht
hatte, aber die Falle ist ja zugeschnappt, es bleibt nicht beim „schöneren Schluss“.
Macht und
Leiden
Dann wurde ich in meine Schulzeit zurückkatapultiert durch „Der
Sommer des Grossinquisitors“. Helmut Lethen, Universitätsprofessor und
langjähriger Leiter des Instituts für Kulturwissenschaften in Wien, ist eines
Sommers über Dostojewskis Parabel gestolpert, in der ein wiederauftauchender
Jesus vom Großinquisitor mit dem Scheiterhaufen bedroht wird, weil er die
teuflische Machtordnung seiner eigenen (?) Kirche bedroht. Für mich eine
Erinnerung an den Deutsch- und vor allem Religionsunterricht, in dem mich
dieser Text für Dostojewski begeistert hat. Für Lethen war er ein Anlass, dass
auch er sich mit der Faszination des Bösen beschäftigt – man könnte fast sagen
humorvoll, z.B. wenn man an seine Kapitelüberschrift „Unter dem Pflaster liegt
nicht der Strand, sondern die Kanalisation“ denkt. Er kreuzt durch viele
Denkschulen, nimmt prominente Namen als Assoziationshilfe und fast merkt man
ihm eine gewisse Eile an: im Dankeswort am Ende des Buches berichtet er, dass
er am 3. Mai dieses Jahres nur knapp dem Tod von der Schippe gesprungen sei.
Es ist ein vielleicht unbewusster Zeitdruck zu spüren bei der
intensiven Arbeit des Autors am Buch, dem Quellenstudium und den vielen Begegnungen,
zum Beispiel mit dem Antiquar Domenico Jacono, den er wöchentlich traf, um vor
allem über Dostojewski zu sprechen.
Aber – davon spricht Lethen nicht – Jacono ist nicht nur
Enthusiast des Dichters, sondern auch leidgeprüfter Anhänger der „Religion
Rapid“. Der Glaube eines Fußballfans, und dafür scheint mir der Antiquar ein Beispiel,
erinnert mitunter an religiöse Rituale, Iacono vergleicht zum Beispiel
Weihrauch in Kirchen mit Pyrotechnik am Fußballplatz. Bei „Leiden“ denkt Iacono
möglicherweise genauso an Niederlagen seines Vereins, wie Helmut Lethen an die
Geschichte von Hiob, der ohne eigene Schuld leiden muss.
Während er an dem Buch arbeitete, musste Lethen ganz real
leiden, hat aber überlebt: Dank einer Zahnärztin wurde seine Gehirnblutung früh
entdeckt.
Ein Trost bei all dem Bösen der Welt? Ja, der freundliche
Schluss des Buches verweist auf die freundlichen Hände der Menschen im
Krankenhaus. Der Autor bedankt sich und beschreibt das Gefühl, „umhüllt“ zu
sein „vom Mantel der Liebe meiner Frau und meiner fünf Söhne“. Das Buch ist
gerade erschienen – im 84. Lebensjahr seines Autors. (Helmut Lethen: Der Sommer
des Großinquisitors, Rowohlt Berlin)
Koinzidenz
Fast zufällig fiel mir heute ein Cover einer Lieblingsplatte
in die Hände – weil es lange als Schmuckstück im Büro meiner Frau aufgestellt
war, fehlten natürlich die zwei LPs, die es umhüllen sollte. Kurz gesucht,
gleich gefunden, zweimal gehört (zuerst streikte der Verstärker des
Plattenspielers). Nur ein Lied hörte ich noch öfter. Es passt programmatisch
zum Tag: Pure Vernunft darf niemals siegen. Ein Textausschnitt:
Pure Vernunft darf niemals siegen / Wir brauchen
dringend neue Lügen
Die uns durchs Universum leiten / Und uns
das Fest der Welt bereiten
Die das Delirium erzwingen / Und uns in
schönsten Schlummer singen
Die uns vor stumpfer Wahrheit warnen /
Und tiefer Qualen sich erbarmen /Die uns in
Bambuskörben wiegen.
2005 ist das Tocotronic Doppelalbum erschienen, die Vernunft
hat nicht gesiegt, neue Lügen, die uns durchs Universum leiten, haben wir in
der Mickey Mouse Version von Welt - also in Österreich, aber im Ex-Empire
England und Großbritannien, das extra die EU verlassen hat, um mit Genuss in
den Selbstzerstörungsmodus rutschen zu können, dort ist die Welt schon größer
als im Comic. Und über den Exagenten und Kriegstreiber und seine tausenden
Opfer verliere ich kein Wort. Ob wohl die letzten Zeilen des Textes hier auch
ein Trost sind? „Wir sind so leicht, dass wir fliegen“. (Helmut Lethen: Der
Sommer des Großinquisitors, Rowohlt Berlin)
Aber halt, es ging ja um die „böse“ Buchhandlung.
Giorgio Parisi ist Vorgänger von Anton Zeilinger. Auch Quantenphysiker,
sein Spezialgebiet sind komplexe Systeme, dafür hat der Professor der römischen
Sapienza Universität im Vorjahr den Nobelpreis erhalten, und im eben auf
Deutsch erschienenen Buch „Der Flug der Stare“ bringt er (übersetzt von Enrico
Heinemann) den Leser*innen „das Wunder komplexer Systeme“ näher. Parisi zeigt
die Bedeutung der oft verfemten „Warum“ Frage. Gerade in einem Land, in dem die
Sprache auf „warum“ (perchè) mit demselben Wort „perché“(weil) antwortet, lässt
dies fragen, ob nicht gute Fragen die Antwort schon in sich tragen könnten.
Wenn man keine schon gefundenen Antworten findet, dann sollte
das keine Angst machen, denn wenn man wirklich neugierig sei, schreibt Parisi,
dann „stellt sich die Frage, ob man nicht selbst die Antwort finden muss“. Das
sei ja schließlich der Beruf von Wissenschaftler*innen, „etwas in Angriff zu
nehmen, was bislang noch keiner versucht hat.“ Bleiben wir beim Beispiel des
Schwarms von Staren, die fliegen, als hätten sie den Formationsflug zu
tausenden jahrzehntelang geübt. Parisi und sein Team haben jahrelang dazu
geforscht, als Physiker, die komplexe Systeme erkennen wollten, nicht als
Biologen, die sich besonders für den Sturnus vulgaris interessieren.
Die Liebe zu komplexen Systemen scheint Parisis Blick auch
auf andere als physikalische Phänomene zu beflügeln, er erinnert sich an
Konflikte mit faschistischen Studentengruppen um 1968, hat gemeinsam mit
Kolleg*innen verhindert, dass Papst Benedikt XVI an der Sapienza Universität
zum Beginn eines Studienjahres einen Vortrag hielt, weil kreationistische
Thesen seiner Überzeugung nach mit Weisheit (Sapienza) rein gar nichts zu tun
haben.
„Der Flug der Stare“ führt durch Episoden des Lebens eines
Physik Nobelpreisträgers, spricht Tierliebhaber an und präsentiert einen Satz,
der sehr zum Nachdenken anregt: „In der Physik und Mathematik stehen die
Bemühungen, etwas Neues zu verstehen, in einem frappierenden Missverhältnis
dazu, wie einfach und selbstverständlich das Resultat erscheint, sobald die
verschiedenen Schritte durchgerechnet sind.“ Und Parisi zieht eine Parallele zu
einem ganz anderen Gebiet: „In der Wissenschaft und der Poesie fehlt im
Endergebnis jede Spur von den Mühen und Zweifeln, die den kreativen Prozess
begleitet haben.“ Als Physik Laie und Fan flüchte ich mich übrigens immer in
poetische Welten, wenn ich vom Verstehen der modernen Physik noch weiter
entfernt bin als viele andere.
Schließlich aber kann man sich nach der Lektüre diese Worte beruhigt
an die Mathematik Schularbeiten von anno dazumal zurückerinnern: Dass sich
Rechenbeispiele ausgingen, war immer ein Hinweis, dass man sich nicht
verrechnet hatte. (Giorgio Parisi: Der Flug der Stare, S. Fischer). Ein gutes
Gefühl.
PS: Martina Bartalszkys Buchhandlung ist nicht böse.
Im Gegenteil.
Zu erleben in der Währinger Straße 26, 1090 Wien.