rainer rosenberg

 

 

genug gefragt

 

 

Kukuruz – Polenta – Mais

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Eigentlich habe ich Nora Aschacher ja erst gestern zum ersten Mal getroffen. Gestern, knapp vor einem halben Jahrhundert, als wir begannen an der Jugendsendung „Minibox“ auf Ö3 zu arbeiten. Eine Sendung für berufstätige Jugendliche sollte es nach dem Willen von Gerd Bachers erstem Radiodirektor geben, etwas anders als die Musicbox, die schon vom Sendetermin um 15h nur für Schüler:innen und Studierende geeignet war. Hubert Gaisbauer suchte ein Team für die neue Sendung - Nora und ich waren ein Teil davon.

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Von links: Kurt Kletzer, ich, Helmut Waldert, Hubert Gaisbauer, Nora Aschacher.               (Foto: ORF)

 

Wieso sie da wegschaut? Wohl ein Zufall, denn als Radiojournalistin genau hinzuschauen war immer eine ihrer Stärken. Sie wagte es sogar, in die Zukunft zu schauen und gründete die Sendereihe „Nova – Leben 2000“ lange bevor vom „Millenniums-Bug“ die Rede war, sie war für das „Radio-Kolleg“ auf Ö1 verantwortlich und als ihre Radiozeit vorbei war, begann der Tanz von neuem: sie ist Mitbegründerin der Age Company, die das Motto hat: „Tanz macht das Alter besser, aber Alter macht auch den Tanz besser“.

 

Auch gestern war heute

Aber jetzt, viele Jahre nach dem vorher erwähnten „gestern“, knapp vor der Kukuruz-Ernte in Österreich, möchte ich auf ihr neues großes Werk hinweisen: ihr Buch „Mensch und Mais“. Und zufällig: beim ersten Aufschlagen komme ich – und das ist typisch Nora – auf diesen Zwischentitel „Weiter wie bisher ist keine Option“.

Das galt für die Feministin Nora Aschacher, die Radiomacherin, die Tanz-Company Gründerin. Und zwei Seiten weiter sind wir schon in Supermarkts Mais-Universum. Mais befindet sich in 20 000 Produkten ist da zu lesen. Als Maisstärke oder als Maisfaser in Zahnseide, Propanediol als feuchtigkeitsspendender konservierender Inhaltsstoff von Kosmetika, Popcorn als Baustoff mit isolierender Wirkung. Ein paar Seiten später Rezepte: für Maisgrießpudding oder Nachspeisen aus Südafrika, Karibik Palatschinken oder „Bolo de fubá“ aus Brasilien.

 

Weltprobleme und Kochrezepte

Ich blättere zurück, neben brennendem Regenwald ein brasilianisches Maisfeld, das mich an das Burgenland erinnert, Mato Grosso statt St. Michael. Auch kein Problem.

Eine Liebesgeschichte zwischen einem spanischen Schiffbrüchigen aus dem Jahr 1511 und einer Maya Frau soll am Anfang der weltweiten Mais-Liebe stehen, der auch Nora Aschacher verfallen ist. Sie erzählt es, und schon sind wir bei Rezepten für Tortillas. Auch mit Spinat und Feta, was ja durchaus an eine alte europäische Hochkultur erinnert.

Das Original-Tagebuch des Genuesers Christoforo Colombo ging verloren, er soll jedenfalls von einer „Wunderpflanze“ berichtet haben, deren Körner in einer wunderbaren Art angeordnet seien, ähnlich wie Erbsen und weiß, wenn sie jung sind. Kukuruz heißt in Italien „grano turco“, Polenta für Gerichte aus Maisgries ist auch die Basis für ein Schimpfwort: für „Polentone“ – als Maisfresser wurden Norditaliener von Süditalienern beschimpft, die wiederum die Süditaliener Terroni nannten, wenn sie als ehemalige Landarbeiter in den industrialisierten Norden kamen. Allerdings gibt es ohne Boden keine Landwirtschaft, aber wenn es beim wechselseitigen Beleidigen hilft, dann kann man auch eine wunderbare Pflanze wie den Mais benützen. In beiden Fällen wird aber über Menschen gespottet, die hart auf Feldern arbeiten, sich nur von Mais ernähren können, gegen Armut ankämpfen müssen und wenig Bildungschancen hatten. Oberflächliche Abwertung des Anderen als Mittel zur Stabilisierung übler Zustände.

 

Bioladen statt Biosprit?

Wird der Anbau von Lebensmitteln für Menschen weniger gewinnbringend als der Anbau von Futtermitteln oder Grundstoffen für die chemische Industrie? Futter war Mais in Österreich schon lange, möglicherweise hat er deshalb mitunter auch ein schlechtes Image und erst eine Neubesinnung macht im Bioladen einen Maiskolben fast zum Luxusgut. Sind Biotreibstoffe vertretbar, wenn Menschen hungern? Das ist schon eine lange diskutierte Frage.

William Faulkners Satz „Civilization begins with distillation” mag diesbezüglich zur Entspannung beitragen, schließlich liebte der Schriftsteller seinen aus Mais destillierten Bourbon Whiskey.

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Nora Aschacher schreibt in „Mensch und Mais“ nicht nur über Pflanze und Individuen, sondern sie entwirft eine weltweite Kultur- und Sozialgeschichte, die viel mehr betrifft als „zea mays“. Der genaue Blick der Autorin auf eine große Liebe wird gleichzeitig zu einem Kompendium von Jahrhunderten Menschheits- und Planetengeschichte.

Nora Aschacher: Mensch & Mais. Kulturgeschichte einer jahrtausendealten Liebe. Verlag Anton Pustet, Salzburg 2023.

 

 

Peter Handke: Keine Meinungen – Literatur

6.12.2022