© Erwin Strassnigg
Regen
Regen. Ich erinnere mich an ein vor allem graues
Foto in der „Autorevue“ des Jahres 1966. John Surtees gewann mit seinem Ferrari
den Großen Preis von Belgien in Spa. Seit damals (ich war gerade Teenager
geworden und weil die Urlaube in Italien so schön waren Ferrari-Fan) flößt mir
der Name Spa Unbehagen ein, und es war auch dieses Regenrennen, das die Welt
der Rennfahrer veränderte: Jackie Stewart erlebte einen plötzlichen
Regenschauer als „Wand aus Wasser“, kam von der
Strecke ab, fuhr in einen Telegraphenmast, wurde durch einen
Holzstapel gebremst und blieb dann zuletzt in einer Wiese liegen. Graham Hill
war ebenfalls in den Unfall von neun Fahrern verwickelt, er kam seinem BRM
Markenkollegen zu Hilfe, aber es gelang ihm nicht Stewart aus dem Auto zu
holen. Der saß lange im auslaufenden Benzin, immerhin die Benzinpumpe konnte
Hill stoppen, und weil auch Bob Bondurant in die Karambolage verwickelt war,
konnte von den beiden mit Hilfe des Werkzeuges von Zuschauern Jackie Stewart in
Sicherheit gebracht und in ein nach langer Zeit kommendes Rettungsauto
verfrachtet werden. Im Krankenhaus an der Rennstrecke gab es keine Ärzte,
Stewart sollte in ein anderes verlegt werden, der Rettungsfahrer verfuhr sich
aber…
Das alles klingt wie eine übertriebene absurde
Filmhandlung und obwohl das Ereignis in keinem Drehbuch stand, ist dieses Rennen
tatsächlich in einem Spielfilm zu sehen. John Frankenheimers Film „Grand Prix“
beschreibt diese Details nicht, er verwendete
allerdings echte Rennaufnahmen für seinen Film
– und so kann man heute noch sehen, wie vor einem halben Jahrhundert Autorennen
ausgetragen wurden. Die „Wand aus Wasser“ wird erkennbar, die Nähe der
Telegraphenmasten und Häuser.
Sängerin
und Sicherheit
Dass Francoise Hardy mit ihrem Auftritt im Film auch
einen Platz in der Kunstgeschichte fand, merkte ich erst, als ich im Kunsthaus
Zürich auf ein Bild von Franz Gertsch traf, der sich von einer Szene mit der
Sängerin, die in dem Film die Rolle einer begehrenswerten jungen Frau spielte,
inspirieren ließ. Vor zwei Jahren übrigens veröffentlichte sie ein Video, das den Bogen über all die
Jahrzehnte spannt… Gertsch malte offenbar gleich nach dem Erscheinen
des Films, wie man am Entstehungsdatum, das im Posterkatalog des Gertsch Museums angegeben ist, erkennen kann.
© Museum Franz
Gertsch
Ab diesem Unfall setzte sich Jackie Stewart intensiv
für mehr Sicherheit im Motorsport ein, was zu einem völlig anderen Aussehen der
Strecken geführt hat, und viele zusätzliche Gesichtspunkte zur Konstruktion von
Autos herbeigeführt hat.
Es gibt Autofahrende, die Regen lieben. Man hat ein
Dach über dem Kopf, der Scheibenwischer schafft freie Sicht, der Luftzug des
Gebläses hält die Scheiben beschlagfrei und im Wagen ist es gemütlich warm.
Besonders, wenn man zu zweit fährt, kann man sich gut unterhalten und wenn man
halbwegs vorsichtig ist, gibt es keine großen Gefahren. Zumindest für mich
können längere Autofahrten im Regen, besonders nächtens eine angenehme,
geborgene Stimmung erzeugen. Man muss ja nicht aussteigen.
Ein Defekt oder – schlimmer – ein Unfall im Regen,
das will man gar nicht, dann sind alle Vorteile des Autos wie weggeblasen, vom
Gefühl der Geborgenheit zu dem des Ausgesetzt-Seins. Im besten Fall können
Pannendienste ihrer Aufgabe, einem in so einer Situation beizustehen, gerecht
werden, aber das Warten im nassen Dunkel einer Landstraße, das hätte man lieber
vermieden.
Hilfe
im Unwetter
Wenn man viel mit älteren Autos unterwegs war, dann
weiß man das ganz normale Funktionieren eines Autos besonders zu schätzen, es
scheint dann nicht mehr selbstverständlich, dass alles so funktioniert, wie es
sollte.
Auf der Radtour überfällt einen der Regen, es wären
noch 50 km zu bewältigen? Zum Glück hat der Bekannte, bei dem man schlafen
wollte, einen Kombiwagen, man wartet durchnässt im Gasthaus, lädt die Räder
ein, lässt sich chauffieren, und dann ist nur mehr die Frage, wer von den
beiden Tourenfahrern zuerst duschen darf. Die Dusche ist auch so eine
Selbstverständlichkeit, die ich jeden Tag von neuem fast als Wunder betrachte.
Ich bin jedem Menschen dankbar, der eine errichtet hat, empfinde warm Duschen
als lebensrettend, auch wenn ich gar nicht in Gefahr war. Die Dusche eine
Selbstverständlichkeit wie ein funktionierendes Auto? Ich bin jedenfalls für
beides dankbar.
Von der Dusche zurück zum Regen. Mein erstes Rennen
in einem Monoposto (viel langsamer als die Autos im Film und in Spa) fand im
Regen statt. Und seltsamerweise war ich zuerst ganz glücklich. „Das ist es“,
dachte ich, worauf ich seit Jahrzehnten gewartet hatte. Ich sah mehr, als ich
mir nach dem Betrachten des „Grand Prix“ Filmes im Gartenbau Kino vorstellen
konnte, die Strecke hatte wesentlich mehr Sturzräume, mein Auto war langsamer,
ich war angeschnallt, es hatte sich etwas getan. Zuerst ging es gut, dann
fühlte ich mich bei einem Training überhaupt nicht wohl, im ersten Rennen
führte ich in meiner Klasse, rutschte in der letzten Runde etwas aus, das
zweite am darauffolgenden Tag konnte ich gewinnen. Vor Peter Hinderer mit
seinem Lotus, der gerade gleich mehrfach als Histo-Cup Sieger gefeiert wurde.
Reportage
von Streckensprecher Georg Gruber
© Videostill histo-cup 2016
Gewinnen, Niederlage? Wenn jemand bei Wahlen die
meisten Stimmen gewinnt, obwohl er oder sie beim letzten Mal mehr Stimmen
gehabt hat, ist das dann Sieg oder Niederlage? Oder ist es bloß ein Zeichen,
dass eine andere Strömung relevanter wird, die Konkurrenz überzeugender, eine
Abwechslung interessant? Wer die Mehrheit erreicht, hat gewonnen, genauso, wie
ein Fußballteam, das mehr Tore schießt, ganz unabhängig davon ob es ein
„schönes“ Spiel war.
Wettbewerb,
Doping und Unterdrückung
Sind wir wirklich auf Wettbewerb ausgerichtet? Im
historischen Match – vereinfacht ausgedrückt – zwischen Kommunismus und
Kapitalismus hat zweiterer gewonnen. Auch wenn in ehemals „sozialistischen“
Ländern immer bewiesen werden sollte, dass man dem Kapitalismus überlegen sei. Aber
es weder vor noch nach dem Ende des
Systems wurde „fair“ gespielt – von Doping bis Mord, Korruption bis
Unterdrückung alles schien recht, um zu – was eigentlich – zu siegen? Eine
Vormachtstellung zu erreichen?
Inzwischen versuchen alle, ihre Interessen nach den
unklaren Regeln von Märkten durchzusetzen und dementsprechend die Regeln
während des Spiels zu ändern. Oder sich bei Übertretungen nicht erwischen zu
lassen - das scheint allerdings auch ein Motto auch in den meisten Kategorien
des Motorsports zu sein…Zumindest sprechen viele in den unterschiedlichsten
Fahrer*innenlagern davon…
Schwindeln können auch die Krähen, legen Fake
Vorratslager an, damit andere Vögel nicht die Früchte ihrer harten Arbeit
ernten können. Wenn das ein Fortschritt ist, dann kann es ja nicht verwundern,
dass Menschen durchschnittlich 25 mal am Tag lügen, wie die Psychologin Revital
Ludwig von der Universität St. Gallen der Neuen Zürcher Zeitung sagte, wer
beeindrucken will, lügt besonders oft ergeben die Forschungen von Robert
Feldmann von der Universität Massachusetts. Aber
selbst die Angaben über das tägliche Lügen-Pensum schwanken oft, einmal wird 25
mal genannt, dann wieder 200 mal, und am Ende liest man, dass 58% nach
Eigenangaben täglich lügen. Da fragt man sich dann, ob angesichts der vorher
genannten Zahlen die anderen 42% zumindest bei der Umfrage geschwindelt haben.
Ich sage oft „Den Menschen ist die Wahrheit nicht zumutbar“ und habe damit einmal
meinen ehemaligen Personalchef überrascht. Allerdings fürchte ich, er hätte
zumindest bei seinem überrascht sein geschwindelt, denn Ingeborg Bachmanns Satz
von der Zumutbarkeit der Wahrheit bezieht sich ja nicht auf alles. Und vor
allem sah sie als ein Ziel Ent-täuscht - also ohne Täuschung - leben zu können.
Wenn die Washington Post in Donald
Trumps Aussagen als Präsident bis Anfang November mehr als 22 000 Lügen und
Irreführungen gecheckt hat, dann wären das 15 Lügen in seinen öffentlichen
Aussagen pro Tag, hätte er jenseits davon geschwiegen, wäre er also ein
unterdurchschnittlich häufiger Lügner. Dies ist allerdings nicht anzunehmen.
und ein Lied von Wolf
Biermann
Beim letzten Rennen in dieser Saison gab es wieder Regen,
richtig viel. Inzwischen habe ich ein älteres und etwas langsameres Auto und
dieser Regen brachte mir eine neue Dimension zu Kenntnis: man sieht nicht nur
wenig nach vorne, sondern nach hinten sieht man noch weniger. Beziehungsweise
nur die selbst erzeugte Gischt, was danach kommt, ist nicht zu erkennen. Diese
Autos haben keine Kotflügel, sie verteilen mit ihren Rädern vier Fontänen. Ich
fuhr ein paar Trainingsrunden, dann packte ich zusammen und verzichtete auf den
Rennstart. Hat da noch immer Spa in meinem Kopf herumgespukt, war es das
ähnliche Aussehen meines Wagens, wie das von Jackie Stewarts BRM in dieser
Saison? Oder hat es mir an der Freude gefehlt, mit einer Herausforderung
umzugehen, die ich mir nicht selbst ausgesucht hatte? Man könnte auch sagen:
ich war schlecht vorbereitet, hatte kein Antibeschlagspray für das Visier, die
Reifen am Ende der Saison waren schon ziemlich abgefahren und das Auto war auch
nicht schnell, und wer weiß, ob ich es heil über die Runden gebracht hätte. Das
alles zusammengezählt heißt ganz einfach: Startverzicht. Aufgeben, das ist eine
Entscheidung, die Niki Lauda in Fuji 10 Jahre nach dem Unfallrennen in Spa
vielleicht berühmter gemacht hat, als es ein zusätzlicher Weltmeistertitel
getan hätte.
„Nein“ sagen, wenn alles auf „ja“ programmiert ist.
Und damit meine ich nicht meine Hobby-Rennfahrerei, das geht von den
Hochzeits-Kitschfilmen, bei denen in letzter Minute am Traualtar nein gesagt
wird, weil die „wahre“ Liebe wartet, bis zu dramatischer Verweigerung der Unterordnung
unter Befehle eines Verbrecherregimes.
Schwindel
und Gewissen
Vor Jahren wurde in Deutschland und Österreich noch
eine „Gewissenprüfung“ durch den Staat abgehalten, wenn junge Männer nicht das
Handwerk des Tötens lernen wollten. Gewissenprüfungen in der anderen Richtung
wurden nie veranstaltet, wer es denn mit seinem Gewissen vereinbaren könne, die
Tötungshemmung abzutrainieren, weil dies der Schutz des Landes verlangt.
Zweifellos wurde auch bei diesen Prüfungen geschwindelt.
Inzwischen gibt es keine Zivildienst-Gewissenprüfung
mehr, aber auch kaum eine Bewegung gegen Kriegsspielzeug wie damals, wohl weil
sich der Krieg im Kinderzimmer wie bei den hochtechnisierten Armeen z.B. der
USA fast völlig (aber nur fast) in den virtuellen Raum verlagert hat. Aber
halt: bei der Army werden nur die Befehle zu Raketenstarts und Bombardements im
virtuellen Raum irgendwo im Nirgendwo gegeben. Die Ziele tragen Namen und haben
Adressen.
Jetzt trainieren wir einmal Spa in Regeneinstellung,
wahrscheinlich stellt der Simulator stellt das Bild
unscharf, im Nebel treffen die rennbegeisterten Kinder
rennbegeisterter Eltern ihre Entscheidungen, in echt sehnen sie sich, einmal so
schnell fahren zu dürfen, wie sie könnten. Der Reifenabrieb verbietet es ihnen,
die Taktik genauso. Dass man Reifen produzieren könnte, die im Normalfall ein
Rennen durchhalten, ist anzunehmen, aber inzwischen basiert die Dramaturgie des
Spektakels auf Berechnungen, dem Zusammenwírken der Radwechselteams, der
Technik und ja, auch ein wenig dem Können der Fahrenden. Das ist alles so
teuer, dass selbst Jugendliche im historischen Rennsport (wenn das denn ein
Sport ist) antreten, Greise und Kinder fahren ihren - und vielleicht auch den
Sehnsüchten ihrer Eltern nach, kleben sich eine kleine Nationalflagge neben
ihren Namen auf der Flanke ihres Autos und spielen Rennfahrende. Im Maßstab
1:1. Hier ist noch Zigarettenwerbung als Autodesign erlaubt und Autofahren darf
Spaß machen. Im Jahr 1 der Coronakrise ging fast alles gut, was das nächste
Jahr bringen wird? Niemand ist sicher, die Veranstalter sind optimistisch, haben
es gerade bei der Siegerehrung für die vergangene Saison betont, alle hoffen
auf ein neues altes „Normal“.
Dazu gehört: rundum wird weiter gelogen und
geschwindelt werden, vielleicht 25 mal am Tag, vielleicht hundert mal, die
Balken werden sich biegen. Hoffentlich brechen sie nicht.
PS: damals, 1966 in Spa: Surtees gewann ja, Jochen
Rindt kam zum ersten Mal auf Platz 2, Jackie Stewart erholte sich nach seinem
Unfall, kümmerte sich um die Sicherheit auf Rennstrecken, bald kamen
Sicherheitsgurte auf und Vollvisierhelme, Leitplanken und Fangzäune, und er
wurde noch dreimal Weltmeister, inzwischen ist er 81 Jahre alt.