Unter dem Asphalt liegt das
Pflaster
Inselgleich
taucht das Pflaster aus dem Asphaltmeer auf, und darunter, liegt da wirklich
der Strand? Wasser jedenfalls gibt es - von Bergen und Flüssen in Rohren in die
Stadt geholt und dann in der Kanalisation auf Umwegen zurück in den Fluss
gebracht. Abwasserforscher*innen bemerken an der Kokainkonzentration des
Abwassers den Zustand einer Stadtgesellschaft.
Die
Wurfgeschosse der Pariser 68er sind in modernen Städten normalerweise durch eine
Asphaltdecke zugedeckt und gewissermaßen unschädlich gemacht. An Revolutionen
denkt dabei kaum jemand. Es geht um das Vermeiden von Rollgeräuschen der
breiten Autoreifen, der Belag ist angenehmer für Radfahrende und eine vorerst letzte
Ruhestätte für das Erdölprodukt Bitumen.
Damals,
1968, hieß es in Frankreich „Unter dem Pflaster liegt der Strand“, in Frankfurt
wurde der Spruch aufgegriffen und als Titel für die Stadtzeitung
„Pflasterstrand“ verwendet. Daniel Cohn-Bendit war dabei eine wichtige Person.
Spaziergang
am Pflasterstrand
Das
Ding heißt Messrad oder Rolltacho. Heute in der Früh bin ich einem begegnet,
bei einer Baustelle in der Nähe, gleich neben der Stelle an der Lücken im
Asphalt den archäologischen Blick auf ältere Schichten ermöglichen. Und hier
beginnen meine Fantasien, war es so, oder könnte es bloss so gewesen sein, die
Chronik wird zur Fiktion aber kein Fake.
Die
Position einer Mulde für Baustellenabfall wurde besprochen. Zuerst dachte ich
an eine amtliche Kontrolle. Harscher Ton, der Pilot des Messrads war anders
gekleidet als die Baustellenarbeiter, aber, so schien es, er wusste, wo es
langgeht.
Jedenfalls
war ein halber Meter mehr Platz gefragt. Die Gegend ist schon lange von
Baustellen beglückt: ein Riesenwohnbau zu Luxuspreisen wurde anstelle eines
magistratischen Bezirksamtes errichtet, es wird mehr 100 neue Wohnungen, mehr als
100 neue Garagenstellplätze geben, die Straße wurde aufgerissen, zugeschüttet, die
Wasserleitungen wurden erneuert, es sind mehrere Schichten neuen Asphalts zu
erwarten. Nachdem den Wohnungen Bäume weichen mussten, soll auf dem kleinen
Platz vor dem Haus Grün gepflanzt werden.
So
manch alter Baum musste in der letzten Zeit in dieser Gegend weichen. Einer war
im Weg, der andere krank. Auch im nahliegenden Park mussten Bäumchen die
Nachfolge eines Riesen antreten…
Die Person,
die „nein“ sagt…
Ich
weiß nicht wie viele Mitarbeiter*innen der Stadt anwesend sein müssen, wenn
irgendwo ein neuer Schanigarten entsteht, ich weiß nicht, wie viele Menschen
ihre Zustimmung zu einer Baumfällung geben müssen, mir scheint nur immer eine
Person zu wenig dabei zu sein. Nämlich die, die „nein“ sagt. Die keine Angst
vor Verantwortung für den nächsten Sturm hat, nicht an Ödön von Horvath denkt,
wenn ein Ast wackelt, Zufälle für möglich hält und auch das Gegenteil von
Glück, das Unglück. Es kann ja nicht immer jemand schuld sein, wenn etwas
passiert: ein Hund ein Kind beißt, ein Mopedfahrer auf einem nassen Kanaldeckel
ausrutscht, einmal Nießen zu einem Auffahrunfall führt. Dass es Wörter wie Pech
oder Unglück gibt, ist ja kein Zufall.
Die
Müllmulde soll also einen halben Mieter verschoben werden, es wird mit einem
Rolltacho gemessen, damit motorisierte Fahrzeuge leichter um die Ecke biegen
können, im sich täglich verändernden Baustellen-Wirrwarr. Natürlich ändert sich
dieses nicht von selbst, es wird jeweils neu hergestellt: Teile des Baus werden
fertig, ein Kran wird abgebaut, eine Einbahn wird wegen der neuen
Wasserleitungen aktiviert. Ob es wohl eine Beschwerde gab, die zur Kontrolle
geführt hat? Ordnungssinn, der Wunsch nach Unfallvermeidung, das Zeigen der
eigenen Wichtigkeit?
Der
Ton des Messenden war jedenfalls sehr befehlend. Ich wäre zu zart besaitet, um
mir so einen Ton gefallen lassen zu können. Oder zu eingebildet? Oder könnte
ich es mir doch eher leisten, und ganz einfach weggehen?
Nah am Wasser gebaut
Ich
habe hier Bruchstücke persönlicher Beobachtungen mit Fantasien vermischt,
Protest und innere Emigration kamen vor, Fragen, vor denen wohl viele in
Abhängigkeitsverhältnissen Arbeitende stehen. Heute gibt es an der Stelle
wieder eine andere Einbahn, statt einer Absperrung muss ein orange gekleideter
Arbeiter den Autofahrer*innen ihren Weg weisen. Die Asphaltkocher scheinen in
Position gebracht, um das Pflaster zu verstecken, so wie dieses den Sandstrand
versteckt. Dort wo jetzt Wien ist, war nicht weit entfernt vor tausenden Jahren
die Küste eines Meers. Bis heute gibt es Stellen mit scheinbar natürlichem
Sandufer.
Wo immer möglich werden in der Nähe von
Gewässern Wohnbauten errichtet. Das verspricht hohe Quadratmeterpreise. Teure
Wohnungen, um die die vielbesprochene Wohnungsnot der Armen zu lindern? Man
könnte es immerhin tröstlich finden, zu sehen, dass manche der Neubauten von
ihrer Ästhetik her wirken, wie längst überkommene Sozialbauten. Raumhöhen wie
bei Plattenbauten, die noch dazu nie die Qualität der Bauten des „Roten Wien“
der Zwischenkriegszeit erreicht haben.
Auf Granit beißen
Die klassischen Wiener Pflastersteine, lese
ich, sind 18,5 mal 18,5 cm 18,5 cm große Würfel aus Granit und ungefähr 16 Kilo
schwer. Es heißt, sie wurden 1826 eingeführt - auch, damit sie nicht so wie die
Steine des „Katzenkopfpflasters“ als Wurfgeschosse oder zum Barrikadenbau verwendet
werden konnten. Viele kamen aus den Steinbrüchen aus der Gegend von Mauthausen
und Umgebung. Mauthausener Granit war ein beliebtes Baumaterial, über die nahe
Donau ließ es sich auch relativ einfach in wichtige Städte der Donaumonarchie
transportieren. Die Arbeitsbedingungen aber war katastrophal: bis zu 12 Stunden
Schwerstarbeit am Tag, oftmals im Akkord, bezahlt pro Pflasterstein, der
Sonntag war ein Segen, sonst hätte es wohl auch eine Sieben-Tage Arbeitswoche
gegeben. Die durchschnittliche Arbeitszeit war 60 Stunden pro Woche. Kein
Wunder, dass es zu Arbeiterrevolten kam, keine Überraschung, dass die
Nationalsozialisten den Steinbruch von Mauthausen zum Foltern ihrer Opfer
verwendeten.
Räder
rollen seit der Römerzeit über gepflasterte Straßen. Eine Gesellschaft deren
Wohlstand auf der Arbeit von Sklaven basierte, konnte sich das leisten. Die
Unterbrechung des Baus gepflasterter Straßen ging wohl bis 1185, als in Paris
eine Straße zur Erleichterung des Verkehrs gepflastert wurde. So gesehen
scheint es nur logisch, dass gerade hier der Spruch mit Pflaster und Strand
entstand: „Sous les pavés, la plage“. Damit die Räder länger haltbar sind und
besser rollen, wurden sie mit Eisen beschlagen und schlugen mitunter an den
Pflastersteinen Funken. Heute stöhnen Radfahrer*innen stöhnen, wenn sie über
gepflasterte Straßen fahren müssen, weil ja jeder einzelne Stein ein bergauf
und ein bergab Element hat. Das Radrennen von Paris nach Roubaix ist besonders
wegen seiner 30 Abschnitte auf groben Pflastersteinen bekannt als „die Hölle des Nordens“, die den Radrennfahrern auf den insgesamt mehr
als 250 Kilometern mehr abverlangt als andere Rennen.
Bild: Felouch Kotek
Im tiefen Sand eines Strandes könnte man mit einem
Rennrad praktisch gar nicht fahren, vielleicht ein Hinweis darauf, dass man
nicht alles im Leben für einen Wettbewerb ausnützen muss.
Aber auch die Eisenbahn…
Also: vor der Haustüre wird auf den neuen
Asphaltbelag gewartet, an der nahen Unterführung mit den lauten Pflastersteinen
wird gerade asphaltiert, die selten bedachten Erinnerungen an die Leiden der
Steinbruch- und Straßenarbeiter verschwinden weiterhin unter Asphaltdecken.
Allerdings war auch die gute alte Eisenbahn nicht unschuldig – Ferdinand von
Saar hat mit seinen „Steinklopfern“ den Arbeiter*innen, die die Semmeringbahn
mit ihren vielen Viadukten errichtet haben, ein traurig stimmendes Denkmal
gesetzt, wenn er über Benützer*innen der Semmeringbahn schrieb: „An eines aber, das kann man zuversichtlich annehmen, werden
die wenigsten gedacht haben: an die Tausende und Abertausende von Menschen,
welche im Schweiße ihres Angesichtes, allen Fährlichkeiten preisgegeben, Felsen
gesprengt, Steinblöcke gewälzt, Abgründe überbrückt und so recht eigentlich
jene Verkehrsstraße geschaffen, auf welcher man, fast so rasch wie der Gedanke,
aus der unruhvollen, staubdurchwirbelten Hauptstadt am Ufer der Donau an den
Strand der blauen Adria versetzt werden kann.“ Von Saar erzählt eine Liebesgeschichte, die unter
schwierigsten Bedingungen abläuft und lässt dennoch ahnen, dass das Happy End
seiner Novelle nur ein Trost für jene Mehrheit ist, denen im echten Leben keines
vergönnt ist, schließlich sind beim Bau dieser Bahnstrecke etwa 1.000 Arbeiter*innen
verunglückt oder an Krankheiten wie Typhus oder Cholera gestorben.
Heute kratzen in Österreich harsche
Worte und harte Arbeitsbedingungen und auch oft unzureichender Lohn an der
Menschenwürde: bei Baustellen, dort wo die Steine zugedeckt werden, die von wem
auch immer „im Schweiße des Angesichts“ produziert worden sind, beim Verwenden
eines Rollmeters, wenn mans eilig hat. Vielleicht zeigt der Ton auch nur Anspannung
und ein wenig Ungeduld bei einem zu lange dauernden Bauvorhaben.
Und vielleicht ist ja alles gar nicht
so gemeint, vielleicht finden die Arbeiter die Wohnungen, die sie bauen müssen,
gar nicht schön. Vielleicht würden manche von ihnen da gar nicht gerne wohnen,
vielleicht wäre das dann ihre Art von Happy End.
Bis zum nächsten Bau, dem nächste harschen Ton und dem Wissen,
dass ohne sie kein einziges Haus gebaut werden kann. Pflastersteine haben inzwischen
als Baumaterial ausgedient.
PS: am Strand gibt es nicht nur Sand, sondern auch
Kiesel, die das Meer rund geschliffen hat.
Auch die kann man werfen, jedenfalls erzeugen
sie beim Eintauchen immerhin Wellen.