rainer rosenberg

 

 

Hauptsache es rollt

 

Unter dem Asphalt liegt das Pflaster

 

Ein Bild, das Boden, draußen, Asphalt, Loch enthält.

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Inselgleich taucht das Pflaster aus dem Asphaltmeer auf, und darunter, liegt da wirklich der Strand? Wasser jedenfalls gibt es - von Bergen und Flüssen in Rohren in die Stadt geholt und dann in der Kanalisation auf Umwegen zurück in den Fluss gebracht. Abwasserforscher*innen bemerken an der Kokainkonzentration des Abwassers den Zustand einer Stadtgesellschaft.

Die Wurfgeschosse der Pariser 68er sind in modernen Städten normalerweise durch eine Asphaltdecke zugedeckt und gewissermaßen unschädlich gemacht. An Revolutionen denkt dabei kaum jemand. Es geht um das Vermeiden von Rollgeräuschen der breiten Autoreifen, der Belag ist angenehmer für Radfahrende und eine vorerst letzte Ruhestätte für das Erdölprodukt Bitumen.

Damals, 1968, hieß es in Frankreich „Unter dem Pflaster liegt der Strand“, in Frankfurt wurde der Spruch aufgegriffen und als Titel für die Stadtzeitung „Pflasterstrand“ verwendet. Daniel Cohn-Bendit war dabei eine wichtige Person.

Ein Bild, das Boden, draußen, Schmutz, sandig enthält.

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Spaziergang am Pflasterstrand

Das Ding heißt Messrad oder Rolltacho. Heute in der Früh bin ich einem begegnet, bei einer Baustelle in der Nähe, gleich neben der Stelle an der Lücken im Asphalt den archäologischen Blick auf ältere Schichten ermöglichen. Und hier beginnen meine Fantasien, war es so, oder könnte es bloss so gewesen sein, die Chronik wird zur Fiktion aber kein Fake.

Die Position einer Mulde für Baustellenabfall wurde besprochen. Zuerst dachte ich an eine amtliche Kontrolle. Harscher Ton, der Pilot des Messrads war anders gekleidet als die Baustellenarbeiter, aber, so schien es, er wusste, wo es langgeht.

Jedenfalls war ein halber Meter mehr Platz gefragt. Die Gegend ist schon lange von Baustellen beglückt: ein Riesenwohnbau zu Luxuspreisen wurde anstelle eines magistratischen Bezirksamtes errichtet, es wird mehr 100 neue Wohnungen, mehr als 100 neue Garagenstellplätze geben, die Straße wurde aufgerissen, zugeschüttet, die Wasserleitungen wurden erneuert, es sind mehrere Schichten neuen Asphalts zu erwarten. Nachdem den Wohnungen Bäume weichen mussten, soll auf dem kleinen Platz vor dem Haus Grün gepflanzt werden.

Ein Bild, das Boden, draußen, Stein enthält.

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So manch alter Baum musste in der letzten Zeit in dieser Gegend weichen. Einer war im Weg, der andere krank. Auch im nahliegenden Park mussten Bäumchen die Nachfolge eines Riesen antreten…

 

Die Person, die „nein“ sagt…

Ich weiß nicht wie viele Mitarbeiter*innen der Stadt anwesend sein müssen, wenn irgendwo ein neuer Schanigarten entsteht, ich weiß nicht, wie viele Menschen ihre Zustimmung zu einer Baumfällung geben müssen, mir scheint nur immer eine Person zu wenig dabei zu sein. Nämlich die, die „nein“ sagt. Die keine Angst vor Verantwortung für den nächsten Sturm hat, nicht an Ödön von Horvath denkt, wenn ein Ast wackelt, Zufälle für möglich hält und auch das Gegenteil von Glück, das Unglück. Es kann ja nicht immer jemand schuld sein, wenn etwas passiert: ein Hund ein Kind beißt, ein Mopedfahrer auf einem nassen Kanaldeckel ausrutscht, einmal Nießen zu einem Auffahrunfall führt. Dass es Wörter wie Pech oder Unglück gibt, ist ja kein Zufall.

Die Müllmulde soll also einen halben Mieter verschoben werden, es wird mit einem Rolltacho gemessen, damit motorisierte Fahrzeuge leichter um die Ecke biegen können, im sich täglich verändernden Baustellen-Wirrwarr. Natürlich ändert sich dieses nicht von selbst, es wird jeweils neu hergestellt: Teile des Baus werden fertig, ein Kran wird abgebaut, eine Einbahn wird wegen der neuen Wasserleitungen aktiviert. Ob es wohl eine Beschwerde gab, die zur Kontrolle geführt hat? Ordnungssinn, der Wunsch nach Unfallvermeidung, das Zeigen der eigenen Wichtigkeit?

Der Ton des Messenden war jedenfalls sehr befehlend. Ich wäre zu zart besaitet, um mir so einen Ton gefallen lassen zu können. Oder zu eingebildet? Oder könnte ich es mir doch eher leisten, und ganz einfach weggehen?

 

Nah am Wasser gebaut

Ich habe hier Bruchstücke persönlicher Beobachtungen mit Fantasien vermischt, Protest und innere Emigration kamen vor, Fragen, vor denen wohl viele in Abhängigkeitsverhältnissen Arbeitende stehen. Heute gibt es an der Stelle wieder eine andere Einbahn, statt einer Absperrung muss ein orange gekleideter Arbeiter den Autofahrer*innen ihren Weg weisen. Die Asphaltkocher scheinen in Position gebracht, um das Pflaster zu verstecken, so wie dieses den Sandstrand versteckt. Dort wo jetzt Wien ist, war nicht weit entfernt vor tausenden Jahren die Küste eines Meers. Bis heute gibt es Stellen mit scheinbar natürlichem Sandufer.

Ein Bild, das Boden, draußen, Baum, Wasser enthält.

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Wo immer möglich werden in der Nähe von Gewässern Wohnbauten errichtet. Das verspricht hohe Quadratmeterpreise. Teure Wohnungen, um die die vielbesprochene Wohnungsnot der Armen zu lindern? Man könnte es immerhin tröstlich finden, zu sehen, dass manche der Neubauten von ihrer Ästhetik her wirken, wie längst überkommene Sozialbauten. Raumhöhen wie bei Plattenbauten, die noch dazu nie die Qualität der Bauten des „Roten Wien“ der Zwischenkriegszeit erreicht haben.

 

Auf Granit beißen

Die klassischen Wiener Pflastersteine, lese ich, sind 18,5 mal 18,5 cm 18,5 cm große Würfel aus Granit und ungefähr 16 Kilo schwer. Es heißt, sie wurden 1826 eingeführt - auch, damit sie nicht so wie die Steine des „Katzenkopfpflasters“ als Wurfgeschosse oder zum Barrikadenbau verwendet werden konnten. Viele kamen aus den Steinbrüchen aus der Gegend von Mauthausen und Umgebung. Mauthausener Granit war ein beliebtes Baumaterial, über die nahe Donau ließ es sich auch relativ einfach in wichtige Städte der Donaumonarchie transportieren. Die Arbeitsbedingungen aber war katastrophal: bis zu 12 Stunden Schwerstarbeit am Tag, oftmals im Akkord, bezahlt pro Pflasterstein, der Sonntag war ein Segen, sonst hätte es wohl auch eine Sieben-Tage Arbeitswoche gegeben. Die durchschnittliche Arbeitszeit war 60 Stunden pro Woche. Kein Wunder, dass es zu Arbeiterrevolten kam, keine Überraschung, dass die Nationalsozialisten den Steinbruch von Mauthausen zum Foltern ihrer Opfer verwendeten.

Räder rollen seit der Römerzeit über gepflasterte Straßen. Eine Gesellschaft deren Wohlstand auf der Arbeit von Sklaven basierte, konnte sich das leisten. Die Unterbrechung des Baus gepflasterter Straßen ging wohl bis 1185, als in Paris eine Straße zur Erleichterung des Verkehrs gepflastert wurde. So gesehen scheint es nur logisch, dass gerade hier der Spruch mit Pflaster und Strand entstand: „Sous les pavés, la plage“. Damit die Räder länger haltbar sind und besser rollen, wurden sie mit Eisen beschlagen und schlugen mitunter an den Pflastersteinen Funken. Heute stöhnen Radfahrer*innen stöhnen, wenn sie über gepflasterte Straßen fahren müssen, weil ja jeder einzelne Stein ein bergauf und ein bergab Element hat. Das Radrennen von Paris nach Roubaix ist besonders wegen seiner 30 Abschnitte auf groben Pflastersteinen bekannt als „die Hölle des Nordens“, die den Radrennfahrern auf den insgesamt mehr als 250 Kilometern mehr abverlangt als andere Rennen.

Ein Bild, das Gras, draußen, Person, Boden enthält.

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Bild: Felouch Kotek

 

Im tiefen Sand eines Strandes könnte man mit einem Rennrad praktisch gar nicht fahren, vielleicht ein Hinweis darauf, dass man nicht alles im Leben für einen Wettbewerb ausnützen muss.

 

Aber auch die Eisenbahn…

Also: vor der Haustüre wird auf den neuen Asphaltbelag gewartet, an der nahen Unterführung mit den lauten Pflastersteinen wird gerade asphaltiert, die selten bedachten Erinnerungen an die Leiden der Steinbruch- und Straßenarbeiter verschwinden weiterhin unter Asphaltdecken. Allerdings war auch die gute alte Eisenbahn nicht unschuldig – Ferdinand von Saar hat mit seinen „Steinklopfern“ den Arbeiter*innen, die die Semmeringbahn mit ihren vielen Viadukten errichtet haben, ein traurig stimmendes Denkmal gesetzt, wenn er über Benützer*innen der Semmeringbahn schrieb: An eines aber, das kann man zuversichtlich annehmen, werden die wenigsten gedacht haben: an die Tausende und Abertausende von Menschen, welche im Schweiße ihres Angesichtes, allen Fährlichkeiten preisgegeben, Felsen gesprengt, Steinblöcke gewälzt, Abgründe überbrückt und so recht eigentlich jene Verkehrsstraße geschaffen, auf welcher man, fast so rasch wie der Gedanke, aus der unruhvollen, staubdurchwirbelten Hauptstadt am Ufer der Donau an den Strand der blauen Adria versetzt werden kann.“ Von Saar erzählt eine Liebesgeschichte, die unter schwierigsten Bedingungen abläuft und lässt dennoch ahnen, dass das Happy End seiner Novelle nur ein Trost für jene Mehrheit ist, denen im echten Leben keines vergönnt ist, schließlich sind beim Bau dieser Bahnstrecke etwa 1.000 Arbeiter*innen verunglückt oder an Krankheiten wie Typhus oder Cholera gestorben.

Heute kratzen in Österreich harsche Worte und harte Arbeitsbedingungen und auch oft unzureichender Lohn an der Menschenwürde: bei Baustellen, dort wo die Steine zugedeckt werden, die von wem auch immer „im Schweiße des Angesichts“ produziert worden sind, beim Verwenden eines Rollmeters, wenn mans eilig hat. Vielleicht zeigt der Ton auch nur Anspannung und ein wenig Ungeduld bei einem zu lange dauernden Bauvorhaben.

Und vielleicht ist ja alles gar nicht so gemeint, vielleicht finden die Arbeiter die Wohnungen, die sie bauen müssen, gar nicht schön. Vielleicht würden manche von ihnen da gar nicht gerne wohnen, vielleicht wäre das dann ihre Art von Happy End.

Bis zum nächsten Bau, dem nächste harschen Ton und dem Wissen, dass ohne sie kein einziges Haus gebaut werden kann. Pflastersteine haben inzwischen als Baumaterial ausgedient.

Ein Bild, das draußen, Himmel, Wasser, Natur enthält.

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PS: am Strand gibt es nicht nur Sand, sondern auch Kiesel, die das Meer rund geschliffen hat.

Auch die kann man werfen, jedenfalls erzeugen sie beim Eintauchen immerhin Wellen.

 

 

Träumen von Goodwood

18.9.2022