By Jean-Pol GRANDMONT - Own work, CC BY 4.0
Auch
Vaporetti können Trauer tragen
Ein Schwarzweißfoto in der FAZ, eine gefesselte Ertrunkene
scheint im seichten Wasser Venedigs zu liegen, inmitten von harten
Betonwürfeln. Das Bild gehört zu einer Rezension eines Romans über dunkle
Stunden der Lagunenstadt, als Juden und Jüdinnen verfolgt, deportiert und
ermordet wurden und Partisan*innen von der Wehrmacht demonstrativ öffentlich
erschossen wurden. David Hewsons Roman „Garten der
Engel“[1] behandelt in einer fiktiven
Geschichte historische Ereignisse, Hannes Hintermeiers Rezension machte mit der
Darstellung des Partisaninnendenkmals von Carlo Scarpa und Augusto Murer in der
Nähe der Giardini die Geschichte fast noch spürbarer.
„Schreiben Sie was darüber?“ wurde ich gefragt. Ich dachte
ein wenig über Geschichte und Fiktion nach, wie sie sich in Bücher Filmen mit
eigenen Wahrnehmungen verknoten, und ich sah auch nach, was es mit dem Denkmal
für die Partisanin und dem Sockel des berühmten in
Venedig geborenen Architekten Carlo Scarpa auf sich
hat. Und siehe da, es ist nicht der einzige Sockel, den Scarpa
für die Partisanin entworfen hatte, und Murer ist
nicht der einzige Bildhauer, der für das Denkmal eine Figur entwickelt hat. Leoncillo Leonardi, der selbst
Widerstandskämpfer war, erhielt einen ersten Auftrag, das Werk wurde 1957
präsentiert, und nur durch einen Zufall existiert davon noch eine frühere
Version: 1961 nämlich wurde Leoncillos Skulptur von
Neofaschisten gesprengt, den darauffolgenden Wettbewerb gewann Augusto Murer, ebenfalls ein ehemaliger Widerstandskämpfer und
Partisan. Von der ersten Skulptur blieben nur Reste von Scarpas
Sockel und die allererste Version des Denkmals, bei der die Auftraggeber die
rote Farbe des Halstuchs der Partisanin gestört hatte…
Dampf
ablassen
Wir sind also bei der Vaporetto Station Giardini, gleich in
der Nähe des Denkmals auf der einen Seite, auf der anderen Seite der Station
liegt die „Riva dei Sette Martiri“,
die an ein prägendes Datum im Venezianischen Widerstand erinnert, das auch ein
wesentlicher Punkt im Buch David Hewsons ist: am 3.
August 1944 wurden hier sieben wegen Widerstands gegen die deutsche Besatzung
Inhaftierte als Repressalie für den Tod eines Wehrmachtssoldaten ermordet – vor
großem Publikum, das eigens herbeigeschafft wurde. Dass der Soldat ins Wasser
gestürzt war, nicht weil er attackiert wurde, sondern weil er betrunken war, wurde
nicht weiter beachtet.
Werden Denkmäler von Vorbeigehenden als Irritation
wahrgenommen, oder sind sie – gerade in einem Ort, der selbst schon ein
Monument ist – nur Teil der Stadtmöblierung, so wie eine Anlegestation für
Vaporetti? Eine Haltestelle für den öffentlichen Verkehr, in einer Stadt in der Gondeln das darstellen, wofür sonst vielleicht
Pferdekutschen dienen?
Dabei sind ja schon die „Vaporetti“ selbst
Erinnerungsstücke. Das, was der Inhalt des Wortes bezeichnet, gibt es nicht
mehr, denn im Inneren der Vaporetti arbeitet keine Dampfmaschine mehr. Heute
sind es Schiffsdiesel und bald vielleicht Elektromotoren. Die Sonnensegel der
Wasserbusse könnten aus Solarzellen bestehen, ein bisschen zumindest die
venezianische Sonne nutzen – um nur ein wenig in die Zukunft zu schauen, wenn
schon die Vergangenheit das Thema ist. Mit „kleiner Dampfer“ könnte man
„Vaporetto“ wohl am besten übersetzen, und zunächst, ab 1881, waren die damals
in Betrieb gestellten Boote des öffentlichen Verkehrs ja auch tatsächlich kleine
Dampfschiffe.
Etappenziel
„Vaporetto“ und Venedig war für mich fast ein Begriff: als
Kind das erste Mal mit den Eltern in so einem Schiff durch die Stadt zu fahren
war aufregend, Venedig wurde allgemein angesehen wie ein Wunder, und jahrelang
konnte ich bei meinen häufigen Fahrten nach Italien nicht anders als in Venedig
halt zu machen.
Ein paar Stunden am Parkplatz oder sogar im Parkhaus an der Piazzale Roma stehen bleiben und rein ins Gewirr der vielen
Gassen. Die Wege kannte ich bald auswendig, die leistbaren Trattorien
ebenfalls. Manchmal, wenn etwas mehr Zeit war, wurde mit dem Vaporetto der
Linie 1 der Weg zum Lido genommen. Die edlen Wassertaxis für die Hotelgäste
oder Gondelfahrten waren off limits, in den Gässchen
wurden die Venezianer*innen über die Jahre immer seltener, und der Eindruck,
dass Touristen von den vielen Hänlder*innen wie
Beutetiere betrachtet wurden, ließ sich immer weniger verdrängen. Dafür, dass
mir mein Vater bei einem Besuch Venedigs einmal eine einfache Gitarre gekauft
hatte, bin ich ihm bis heute dankbar. Den Namen am Erzeuger-Etikette weiß ich
bis heute: „Giuseppe Indelicato“ soll der Mann
geheißen haben, der die Gitarre gebaut hatte, und einer, der als Musikauskenner
galt, sagte, nachdem er auf dem Billiginstrument einen Akkord angeschlagen
hatte, mit Kennermiene „also bundrein ist die nicht“.
Das störte nicht, weil ich ohnedies fürs Gitarre spielen zu ungeschickte Finger hatte, aber es war fein, eine Gitarre
im Zimmer stehen zu haben und an Venedig zu denken. Weil sie nicht besonders
wertvoll war, wurde die Gitarre immer wieder verborgt und irgendwann verliert
sich die reale Spur des Instruments, bei aller positiver Erinnerung.
Bevor es
Tintenfische tiefgekühlt gab
Der mitfahrende Freund sagte: „wir müssen unbedingt ‚fritto misto‘ essen“ und so wurde
der erste Kontakt mit dem Meer auf der Italienreise entsprechend gefeiert. Wien
– Tarvis, an der Grenze warten, langsam durchs
Kanaltal trödeln, erste Pause in Udine, nächste in Venedig. Dann Geld sparen
und über Landstraßen weiter in den Süden – Chioggia, Cesenatico,
San Marino, über den Apennin zum anderen Meer, zum richtigen, tyrrhenischen.
Rom, Neapel, meistens war in Paestum der Umkehrpunkt. Und immer ging es bei den
Diskussionen mit neuen Bekannten und älteren Freunden um Politik. Wer
sympathisiert mit welcher linken Splittergruppe, in welcher Stadt ist welche
Bewegung stark, wo ist die faschistische Gefahr am größten? Die neue
linksliberale Repubblica kam auf den Markt, Pasolini schrieb aber noch im
bürgerlichen Corriere, Manifesto oder Lotta Continua
waren eher etwas für Spezialisten, die Lieder der Cantautori
aber waren für alle.
Über Venedig sang auch der emilianische
Liedermacher Guccini, er übernahm ein Lied eines
Ensembles aus Genua und machte die Geschichte der 20-jährigen Stefania berühmt,
die bei der Geburt ihrs Kindes stirbt, im Venedig, wo die Fahrten der Gondeln
an ein Ringelspiel erinnern und die Giftwolken aus Porto Marghera
die Stadt zwischen Europa und dem Orient eintrüben.
Aber wie trüb war Venedig erst in Zeiten der Republik von Salò, in den Zeiten als die Wehrmacht Juden und Jüdinnen
verfolgte und sich die Nazis Mussolini nur mehr als Marionette hielten und ihre
KZs bis nach Norditalien brachten.
Claudio Magris beschrieb den endzeitlichen Nazi-Terror in
Triest in seinem Roman „Verfahren eingestellt“[2]. Schließlich gab es in Triest sowohl
das KZ in der ehemaligen Risiera San Sabba, und im Roman von Magris das Schloss Miramare als Ort
für das Fest zu Hitlers allerletztem Geburtstag am 20. April 1945. Unter
Mitwirkung des Kärntner Gauleiters und dann auch für Friaul zuständigen
Friedrich Rainer.
Nicht weit entfernt finden in Venedig, von dem alle Seiten
glauben, die Alliierten würden es wegen seiner kunsthistorischen Bedeutung
nicht bombardieren, nicht nur im Roman von David Hewson
Tragödien statt. Jüdische Partisan*innen treffen auf Einheimische, auf deutsche
Offiziere im Dienste des Holocaust, zum Verrat genötigte Priester und jüdische
Funktionäre, auf Opportunisten und Helden. Mit vielen Annäherungen an die reale
Geschichte des Kampfes um Würde und Überleben wird man nach der Lektüre von
„Garten der Engel“ mit anderen Gefühlen durch die Lagunenstadt gehen. Besetzt
ist die Lagunenstadt nicht mehr von gewalttätigen Truppen, das
Wirtschaftswunder nach dem Krieg, die Massen der Besucher haben dazu geführt, dass
die Stadt von Tagestouristen bald nur mehr mit Eintrittskarte besucht werden
darf. Selbst der Bürgermeister-Philosoph Massimo Cacciari konnte gegen die
durchgängige Kommerzialisierung seiner Stadt wenig ausrichten. Aber auch in Hewsons Buch entsteht selbst in der Zeit der Verfolgung und
des Widerstandskampfes immer wieder eine zumindest kommerzielle Nähe zwischen
Tätern und Opfern, wenn zum Beispiel Verfolgte für Verfolger Preziosen aus Samt
weben.
Im Roman beginnt alles damit, dass die Leiche eines deutschen
Soldaten ertrunken im Kanal gefunden wird, ein lautes Wort und das Leben eines
Protagonisten nimmt eine andere Richtung… und auch das Schicksal eines sehr
ambivalent dargestellten Polizisten-Opportunisten hängt bis zum Schluss des
Buches an einem seidenen Faden. Was Wunder, wenn ein Gutteil der Handlung in
einer Weberei spielt.
Mythos Via
Appia
Hewson[3] hat für ein anderes Buch – so wie
auch der Triestiner Autor und Journalist Paolo Rumiz[4] – die römische Via Appia abgegangen,
und es ist interessant diesbezüglich auf seiner Homepage Namen von Orten zu
finden, die ich den Zeiten der Venedig Aufenthalte oft besucht habe: Minturnae / Minturno, oder Terracina, ich war viele Jahre früher dort, bin nun in alte
Fotodateien gepurzelt. Ein Bild von der Via Flacca in
der Nähe, am Meer entlang die Direttissima zwischen Terracina
und Gaeta bildend, wie lang musste man warten, um das
Foto zu bekommen, so, dass die gesprayte Schrift wirklich Sinn bekommt: „Gott
beschütze dich“, denn sonst droht das Ende der irdischen Reise.
Aber um mit
Francesco Guccini zu sprechen, wir haben ja Gott
sterben lassen. Und das nicht nur an den Straßenrändern, genauso auf der Suche
nach Dingen, wie wir nicht finden, mit den Mythen von den
Rassen… Und jetzt sind wir – um Nietzsche zu folgen – Waisenkinder.
Und plötzlich
taucht wieder Venedig auf – nicht mit der jungen sterbenden Mutter Stefania,
nicht mit den zwei verwaisten jüdischen Geschwistern, die in Hewsons Buch den Kampf gegen den Faschismus aufgenommen
haben, nein wir sind bei Friedrich Nietzsche, der sich in Venedig mit Musik vom
Verlust der Götter tröstet: „Wenn
ich ein andres Wort für Musik suche, so finde ich immer nur das Wort Venedig. Ich weiss keinen Unterschied zwischen Thränen und Musik zu machen, –
ich weiss das Glück, den Süden nicht ohne Schauder
von Furchtsamkeit zu denken.“
Wenn man den „Garten der Engel“ gelesen hat, dann kann man Venedig ähnlich
und gleichzeitig ganz anders sehen, Schönheit und Schaudern gingen Hand in Hand
auch wenn man einmal „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ von Nicolas Roeg mit Julie Christie und Donald
Sutherland gesehen hat.
Die Geschichte und ihre Geschichten verändern die Wahrnehmung, so wie die
Kunst der Biennalen, oder die auch abstoßende Attraktivität der Stadt und die
Abgründe, die ins Acqua alta
führen. Es nützen a la longue keine Hochwasserschutzbauten, auch wenn man sie
M.O.S.E, Modulo Sperimentale Elettromeccanico
nennt – „Mosè“, nach dem Mann, der
durch das geteilte Rote Meer geflohen ist, um sein Volk zu retten.
Stirbt Venedig, wie die erschossenen Partisanen, wie die Flüchtlinge im
Mittelmeer, die von hier nach Auschwitz deportierten Jüdinnen und Juden?
Es ist schwierig, Venedig unbefangen zu besuchen.
[1]
David Hewson: Garten der Engel. Roman. Übersetzt aus dem
Englischen von Birgit Salzmann. Folio Verlag Wien Bozen 2023.
[2] Claudio
Magris:
Verfahren eingestellt. Übersetzt aus dem Italienischen von Ragni Maria
Gschwend. Carl
Hanser Verlag, München 2017
[4] Paolo
Rumiz: Via Appia. Auf der Suche nach einer verlorenen Straße. Übersetzt aus dem
Italienischen von Karin Fleischanderl. Folio Verlag Wien-Bozen 2017