rainer rosenberg

 

 

Hauptsache es rollt

 

Tempo ohne Eile

Hätte ich nicht gerade die italienische Version eines meiner Lieblingsbücher geschenkt bekommen, dann wäre ich möglicherweise in einem kleineren Gewissenskonflikt. Jetzt quäle ich mich mit der alten Frage „flüchten oder standhalten“ (allerdings nicht auf existenzielle Weise), mit dem Unterschied zwischen Kunst und Handwerk und ob Ketten- oder Kardanantrieb besser wäre.

Kenner dieses Lieblingsbuches wissen nun schon, dass Robert M. Pirsig[1] sein Autor ist und dass in diesem Buch vor etwa einem halben Jahrhundert existenzielle Fragen behandelt wurden, die an den psychischen Grundfesten einiger handelnder Personen rüttelten.

Ein Bild, das Text, Rad, Landfahrzeug, Buch enthält.

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Warum ich das Buch geschenkt bekam? Weil auf der italienischen Ausgabe am Cover der Vater und sein Sohn Chris abgebildet sind, wie sie auf einer kleinen Honda sitzen, um ihre gemeinsame Reise aufzunehmen, zusammen mit einem Paar, Sylvia und John, die eine BMW benützen.

Ein Bild, das Rad, Fahrzeug, Landfahrzeug, Reifen enthält.

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Erinnert sich jemand an „Little Honda“ von den Beach Boys? Das war ungefähr dieselbe Zeit. Im Land der Harley Davidsons machten leichte hochdrehende Hubraumschwache Motorräder Furore. Textausschnitt über das „groovy little motorbike“

First gear, it's all right (Honda, Honda, go faster, faster)
Second gear, I'll lean right (Honda, Honda, go faster, faster)
Third gear, hang on tight (Honda, Honda, go faster, faster)
Faster, it's all right.

 

Aber um schnell ging es Pirsig gar nicht, es ging um die Fragen von Verschleiß und Haltbarkeit und was denn eigentlich der Begriff „Qualität“ bedeuten könnte. Nicht nur bei technischen Geräten, bei wissenschaftlichen Arbeiten, im Leben insgesamt. „Zen und die Kunst Motorrad zu warten“ ist der deutsche Titel, und ich machte einmal ein denkwürdiges Interview zu diesem Buch. Die Ö3 Sendung Musicbox brachte einen Sommer lang Sendungen in denen bekannte Persönlichkeiten über für sie bedeutungsvolle Bücher interviewt wurden. Ich erinnere mich, ein Buch war „Der Anti-Ödipus“ des französischen Philosophen Gilles Deleuze und des Psychoanalytiker Félix Guattari über Kapitalismus und Schizophrenie. Unzulässig kurz zusammenfassend könnte man sagen, die beiden Autoren meinen, dass die Welt, also die menschliche Gesellschaft so irre sei, dass man sich nicht wundern dürfe, wenn die Menschen psychisch krank werden, wobei man sich über den Krankheitsbegriff Begriff auch noch einigen müsste, denn vielleicht wäre es ja unter den herrschenden Bedingungen eine „gesunde“ Reaktion „krank“ zu werden.

Und das passte jenseits aller absichtlicher Konzeptionen zu meiner Aufgabe: ich sollte den Schauspieler und Autor Herwig Seeböck („Häfenelegie“) zu Pirsigs Buch interviewen, das sein Leben verändert hatte.

In der Frühzeit der Musicbox sprach Seeböck auch Sendungen für diese tägliche Sendereihe genauso wie seine Frau Erika Mottl, die jahrzehntelang am Wiener Volkstheater engagiert war. Jedenfalls: der Sendetermin kam immer näher und Seeböck war krank, dann durfte ich dennoch zu ihm. Seiner tiefen Stimme tat die Krankheit kaum Abbruch, er blieb aber im Bett liegen und schwitzte. Vielleicht kam die Bedeutung des Buches für ihn dadurch noch mehr zur Geltung, schließlich hatte er ja selbst Motocross-Rennen bestritten und auch die Motorradbegeisterung seines Schauspielstudenten und „Benzinbruders“ Roland Düringer mitausgelöst.

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Herwig Seeböck auf seiner Yamaha –

1976 fotografiert von Hans Newetschny beim Motocross in Ziersdorf

 

Von Technik als geistigem Phänomen

„Ich habe festgestellt, daß es Leuten, die noch nie mit Stahl gearbeitet haben, schwerfällt (…) einzusehen – daß das Motorrad vor allem ein geistiges Phänomen ist. Sie assoziieren Metall mit bestimmten Formen – Rohre, Stangen, Träger, Werkzeuge, Teile –, die alle irgendwo festgemacht sind, und sehen darin vor allem etwas Physisches. Für einen, der Metall maschinell bearbeitet oder gießt oder schmiedet oder schweißt, hat dagegen „Stahl“ überhaupt keine Form. Stahl kann jede Form annehmen, die man will, wenn man geschickt genug ist, und jede Form bis auf die, die man will, wenn einem dieses Geschick fehlt.“ (Pirsig, 1978, S.103)

In seiner Zeit als Universitätslehrender hatte Pirsig schwere Krisen, er fragte die Studierenden nach der Beschreibung von Qualität, hielt Noten geheim, um dem Sinn des Unterrichtens näher zu kommen und blieb selbst auf der Strecke.

Seine traumatisierenden Erlebnisse mit psychischer Krankheit (bei Pirsig wurde katatonische Schizophrenie diagnostiziert, er wurde einer Elektroschocktherapie unterzogen), seine Erfahrungen mit fernöstlicher Philosophie hatten in seinem weiteren Leben große Bedeutung, auch sein Sohn Chris mit dem er im Juli vor 55 Jahren die Motorradreise unternommen hatte, lebte später in einem Zen-Zentrum in San Francisco, als 23-Jähriger wurde er in der Nähe des Zentrums ermordet.

Zen and the Art of Motorcycle Maintenance: An Inquiry Into Values wurde mehr als 5 Millionen Mal verkauft, das Buch schrieb der Autor in einer Vorbemerkung „sollte in keiner Weise mit jenem umfassenden System faktischen Wissens in Verbindung gebracht werden, das der Praxis des orthodoxen Zen-Buddhismus zugrunde liegt. Auch von Motorrädern handelt es nicht in diesem faktischen Sinn“.

Herwig Seeböck, war nicht der einzige, dessen Blick auf Motorräder Pirsig verändert hat, die „Untersuchung über Werte“ geht weit über das Drehen am Gasgriff hinaus. Wie wäre es zum Beispiel mit Geduld und Gelassenheit, oder so ein widersprüchliches Begriffspaar wie hohes Tempo ohne Eile?

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Der Gutachter sah grün und ich sah hellblau. So kann es einem gehen, wenn man das Wort „türkis“ vermeiden will. Den Bescheid abzuholen, schien nur mehr eine Formalität zu sein. Den Bescheid, dass das kleine Motorrad mit dem großen Namen in Österreich angemeldet werden kann: Moto Guzzi „Stornello“ (deutsch: Star, wie der kleine Vogel, der Weinbauern zur Verzweiflung treiben kann, wenn er massenweise auftritt).

 

Der Flug der Stare

Den italienischen Physiknobelpreisträger Giorgio Parisi haben die Schwärme der Stare zu Jahre dauernden Beobachtungen und Untersuchungen geleitet, um zu erkennen, wie ihre Schwarmintelligenz funktioniert. Kurz zusammengefasst: es kommunizieren immer nur benachbart fliegende Tiere miteinander, das genügt. Für Parisi und die mit ihm gemeinsam Forschenden führt dies zu einem für Wissenschaftler unüblichen Begriff: er nennt sein Buch darüber „Der Flug der Stare - das Wunder komplexer Systeme“.

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Er nennt die Organisation also Wunder, denn der Vogelschwarm mit seinen kunstfliegerischen Eigenschaften funktioniert nicht nach Kommando, sondern durch die Kommunikation kleiner Gruppen von Tieren.

Ich darf mich freuen, dass das Buchcover hellblau ist: es erinnert an den blauen Himmel, in denen die Schwärme der Stare unterwegs sind. Die Farbe erinnert an den Tank der Moto Guzzi und in ihrem Logo ist auch ein Vogel abgebildet. Einer der eher einzelgängerisch unterwegs ist und als Beute nicht Weintrauben schätzt, sondern andere Tiere als Speise vorzieht.

Aber dann wird die Frage nach der Freude mit dem kleinen Motorrad eher eine Frage, die zum Buddhismus führt, nämlich zum Aspekt des bewussten Erlebens der Gegenwart. Meditation hilft dabei und ich bin ja jemand, der davon überzeugt ist, eine voll konzentrierte Tätigkeit wie eine Radio Live-Sendung oder ein Rundstreckenrennen im Auto habe auf mich eine solche Wirkung, deshalb fühle ich mich ja auch von Pirsigs Buch so angesprochen. Meine Gegenwart ist aber eher das Akzeptieren von Defekten. Ob im Auto auf der Reise, mit der Moto Guzzi zum Termin bei der Typisierung, es treten Ereignisse auf, die obwohl möglich doch überraschend sind. Beim Kickstarter der kleinen Guzzi dürfte etwas gebrochen sein, beim Kombiwagen ging ein Hilfsaggregat fest, das den Wagen lahmlegte, die Überholung der Fahrräder dauert länger als erwartet. Aber mit dem Fahrrad ist es nicht eilig, das Auto ist repariert, aber was erwartet mich mit der Guzzi: die sich auskennen meinen, um den Defekt zu beheben, müssten Motor und Getriebe zerlegt werden, und dann brauche man Glück bei den Ersatzteilen. Beim Kickstarter-Problem dürfte meine kleine Guzzi nicht die einzige sein, allerdings möchte ich sie schon sehr gerne anstarten können, und auch eine Typisierung würde mich freuen. Inzwischen gehört sie ja noch F. Vielleicht kann er ja doch zaubern, oder wir finden jemanden, der ohne Zauberei das Problem lösen kann. Mit Geschick und Geduld. Egal ob der Stornello jetzt grünes Gefieder trägt oder hellblaues.

 

Flohmarkt / mercatino delle pulci

27.7.2023

 



[1] Robert M. Pirsig: Zen und die Kunst Motorrad zu warten. Ein Versuch über Werte. Deutsch von Rudolf Hermstein, Fischer Taschenbuch 2020, Frankfurt am Main, 1978.