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„Die
Fragen bleiben gleich, die Antworten ändern sich“
5.7.2018
Meine vorerst letzten drei Live-Radiosendungen standen unter
diesem Motto und nach den Gesprächen mit den drei Wissenschaftlern, die bereit
waren, mit mir über die letzten 50 Jahre in Wissenschaft und Gesellschaft zu
sprechen, sammle ich Konsequenzen daraus. Kurt Kotrschal,
der Verhaltensbiologe und Wolfsforscher, die Molekularbiologin und politisch
hochinteressierte Renee Schroeder und der Philosoph Konrad Paul Liessmann,
dessen Freizeit zu einem guten Teil dem Fahrradfahren gehört, machten meine
Gedankensprünge mit, freuten sich über die Live-Musik und boten viel Material
zum Nachdenken. Einigkeit bei allen meinen Gästen: auch wenn es
WissenschaftlerInnen gibt, die an Gott glauben, viele Ö1 HörerInnen von
Transzendenz sprechen - Gott spielt in der Wissenschaft keine Rolle, es sei
denn als imaginierte Größe im Leben der Menschen, die von Kirchen und
Religionen beeinflusste Forschungsobjekte sein können.
Zu jung um ein Achtundsechziger zu sein
Menschen des Jahrgangs 1953 (wie ich und meine Studiogäste)
sind eigentlich zu jung um „68er“ zu sein – doch halt, Einspruch von Renee
Schroeder, „wir durften damals das erste Mal Hosen in der Schule anziehen“, und
Konrad Paul Liessmann spricht von frühem politischem Engagement in der Schule,
er fühlte sich als „68er“, und ich habe vor allem die Studentenbewegung von
Wien aus in Paris verfolgt. Immerhin Daniel Cohn-Bendit ist mir aufgefallen,
der Prager Frühling war mir sehr sympathisch, das
„Weiße Album“ war wichtig und „Beggars Banquet“ liebe ich bis heute. Nie habe ich verstanden, dass
man nach diesem Jahr noch Anhänger einer UdSSR orientierten kommunistischen
Partei sein konnte (es sei denn es hat imponierende KP Betriebsräte gegeben, in
der Firma, in der man arbeitete). Wenn man alt genug war, hat man sich 1956 aus
der erstickenden KP-Erfahrung befreit (z.B. Italo Calvino), wenn man wegen
verschiedener Erfahrungen länger gebraucht hat, war 1968 (z.B. beim Kreis um
das „Wiener Tagebuch“) alles klar. Parteien als Religionsersatz taugen nicht,
und „Religion ist Privatsache“ (Max Adler).
Utopie Gerechtigkeit
Wie also mit den Emotionen umgehen, den Sehnsüchten der
Menschen nach „Gott“ und „Göttern“, nach der „unsterblichen Seele“ und allerlei
sonst Transzendentem?
Nicht einmal mit dem Begriff „Gerechtigkeit“ komme ich klar –
verwendet von fast allen, lässt sich jeweils etwas anderes darunter verstehen.
Wir erleben es bei fast jeder Diskussion um die Arbeitszeit, es wird statt zu
versuchen zunächst eine gegenseitig verständliche Sprache zu finden eskaliert
um zu emotionalisieren. Und nicht nur bei sechs, acht oder zwölf Stunden
Arbeitszeit am Tag, vervielfältigte Emotion treibt die Menschen auseinander
hetzt sie auf, schafft Ablehnung, Hass, Verzweiflung.
Im Englischen ist der Begriff Gerechtigkeit vieldeutig: „justice“ heißt Recht und Gerechtigkeit (und vereint damit
schon oft Widersprüchliches), Fairness könnte es heißen, Equity … Am schönsten
für mich: „poetic justice“
ausgleichende Gerechtigkeit. Denn außer dem Versuch „fair“ zu sein gibt es
„Gerechtigkeit“ nicht. Dieser absolute (Kampf-)Begriff verzichtet auf den
Perspektivenwechsel, darauf sich auf wechselnde Verhältnisse einzustellen. Es
ist wie mit der „Objektivität“ in der Berichterstattung, für die es zwar
ausverhandelbare Kriterien gibt, die aber kein sinnvolles Ziel ist: ein Bild
ist immer ein Ausschnitt. Und Ausschnitte werden ausgewählt. Hoffentlich nach
adäquaten Kriterien.
Gratisschulbuch und Schülerfreifahrt
1968 hat in Österreich in den 1970er Jahren stattgefunden,
ist meine Behauptung, die kaum vorhandene Bewegung wurde von Bruno Kreisky
politisch kanalisiert und hat, weil diese in Österreich so schwach war, keine
großen Gegenreaktionen bei Wahlen hervorgerufen. In Frankreich blieb De Gaulle,
in Italien die „Democrazia Cristiana“ dominierte
Mitte-Links-Industrie und Mafia Herrschaft, aber in Österreich kam
Modernisierung mit Sozialdemokratie und Sozialpartnerschaft – damals von Linken
als Verrat an der Arbeiterklasse abgelehnt 50 Jahre danach herbeigesehnt.
Thatcher und Reagan wurden als letztes Aufbäumen des Kapitalismus betrachtet
und nicht als Vorboten des Neo-Liberalismus. Der Marsch durch die Institutionen
endete oft in Vorstandsetagen von Banken und Industrieunternehmen, schließlich
hatte man als Antikapitalist die Wirkungsweisen des verbal bekämpften Systems
ausreichend internalisiert.
Die Frauenbewegung war erfolgreich, die Bildungsreform ging
in der Zwischenkriegszeit weiter als in den 1970er Jahren, Gratisschulbuch und
Gratisschulfahrten sind die bleibenden Fortschritte.
Die Hoffnung Europa wurde aus heutiger Sicht zur Ausrede für
Missstände verwendet, die grundsätzlich in den Bürokratien und sonstigen
Strukturen der Mitgliedsländer liegen, und die Möglichkeiten der
Kommunikationstechnologien lassen buchstäblich alle mit Reiz-Reaktionsschemata
spielen, anstatt die Reflexions-, Emanzipations- und Bildungsmöglichkeiten als
Hauptsache zu erleben.
Ich bin Journalist geworden, um einen Beitrag zur – ja, zur
Verbesserung der Welt – zu leisten, und Journalist bleibe ich auch ohne Radio.
Ich bemühe mich um fröhliches Scheitern, um das Wahrnehmen mehrerer Seiten,
hoffe auf das Bleiben von Kunst und viele Misserfolge von Demagogie. Die kann
man im Gegensatz zu Gerechtigkeit ganz einfach definieren.
*Foto: Paul Divjak