Schneeball-Effekt
3.12.2018
Draußen: Schnee. Drinnen: Neapel. In Wien, schräg gegenüber eine Buchhandlung. Eine Straße, die an letzter
Zeit an Leben gewonnen hat, auch wenn der Freund, der gegenüber gewohnt hat, in
einen anderen Bezirk gezogen ist. Auch wenn pünktlich am ersten Dezember Schnee
liegt und viele deshalb glücklich sind, ich bin lieber in “Neapel“ und lasse
die Auslagenscheibe des Alimentari als Grenze zu Wien gelten, die
Schiebetür öffnet automatisch, vor Grenzkontrollen muss man keine Angst haben.
Ich sitze da und schaue auf Menschen, die sich des Winters freuen, Capuccino und Torta, statt eines
Mittagessens. Die Welt draußen betrachte ich wie Kino, finde die
vorbeifahrenden Autos hässlich und denke an die Zeit, in der man ihnen noch
unterschiedliche „Gesichter“ andichten konnte. Am besten gefallen mir die Klein
LKWs, VW-Bus oder Mercedes. Quader auf Rädern ohne Stromlinien- und
Sicherheitsfirlefanz. obwohl ich natürlich für Sicherheit bin. Für Freiheit und
Sicherheit. Und wie sich gleich zeigen wird, beides wird – so fürchte ich - am
meisten durch Dummheit gefährdet. Wir befinden uns an einer Stelle Wiens, an
der – je nach Zählweise – fünf bis sechs Straßen von einer Kreuzung
auseinanderlaufen. Es gibt Zebrastreifen, Fahrradspuren, Verkehr jeder Art,
Schnee, Eis vor allem auf Teilen der Gehsteige.
Ich könnte mich jetzt darüber aufregen, dass eine Mutter mit
Tochter ihren Spaß daran hat, Schnee auf den geräumten Gehsteig zu kicken und
damit die Arbeit eines Schneeräumers zu Nichte macht, der erkennbar viel
weniger Geld zur Verfügung hat als die beiden, für den Schnee kein Spiel
bedeutet sondern verantwortungsvolle Arbeit, könnte sagen, dass die beiden den
Schnee auch in die andere Richtung hätten kicken können, nämlich dorthin, wo
ohnedies nicht geräumt war, aber ich lasse es, nehme diese Szene als Vorspiel.
Machen wir das Steigerungsspiel: seltsame Mutter, auffälliger Vater. Die Handlung
im Auslagen-Kino kommt näher – zuerst auf der gegenüberliegenden Straßenseite,
nun zum Greifen nahe: Vater mit Rucksack, Sohn und Tochter. Schnee griffbereit
auf einem Stromkasten, Vater und Sohn machen Schneebälle und schießen.
Bald werden als Ziel vorbeifahrende Autos als Ziel gewählt.
Als getroffen wird, verlasse ich Neapel, gehe zurück nach Wien:
„Stellen sie sich vor“, sage ich, „Sie sitzen in dem Auto,
das getroffen wird“.
Ein verständnisloser Blick.
„Sie könnten erschrecken, hier sind viele Fußgänger, die
Straße ist rutschig...“
„Wenn eine Taube an die Scheibe fliegt, ist es dasselbe...“
„Fliegt aber nicht, und wenn, ist der Schneeball eine Taube
mehr“
Dann wende ich mich dem cirka
Siebenjährigen zu:
„Nimm Dir kein Beispiel an Deinem Vater“ und gehe wieder
durch die Schiebetür.
Von Neapel schaue ich in das ferne Wien. Vater und Sohn
werfen weiterhin Schneebälle, nur der Sohn schaut manchmal etwas verunsichert
nach Italien.